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Schreiben à la carte

Es mag seltsam klingen, aber ein Roman ist durchaus mit einem mehrgängigen Menü vergleichbar.
Ich arbeite jetzt schon viele Jahre als Lektor, habe auch einige Schreibratgeber konsumiert und dabei dieses Vergleichssystem für mich entwickelt. Warum? Es gibt doch so viele Modelle (Drei Akt Modell, Sieben Schritte (dafür empfehle ich Dan Wells Vortrag zu Story Structure) usw.). Ja, aber mir fehlte da immer der greifbare Bezug. Natürlich kann ich von Plot, Wendepunkten, Präpositionen, Pinch usw. sprechen, aber am Ende sind das auch bloß Regeln im luftleeren Raum. Jemand, der von solchen Dingen keine Ahnung hat, wird es schwer haben, die tiefere Bedeutung zu verstehen.
Also habe ich das ganze einmal auf ein System umgebrochen, das universell verständlich ist: Gutes Essen, denn das lieben wir (fast) alle. Wer isst nicht gern ein besonders leckeres Gericht? Eines, das voller Hingabe zubereitet wurde?

Für mein Beispiel bauen wir uns einmal ein (einfaches) klassisches Mehrgänge Menü auf, bestehend aus:
  • Amuse-Gueule / Aperitif
  • Vorspeise
  • leichter Hauptgang
  • Sorbet / Zwischengang
  • (schwerer) Hauptgang
  • Dessert
  • Digestif

Ganz nett, ich hätte gern das Steak!
Was das jeweils für die einzelnen Teile bedeutet und wie sie geschrieben sein könnten, um den Effekt zu erzielen, beleuchte ich in späteren Blogposts, falls ihr mögt, das würde den Rahmen hier sprengen.
Aber hier ein erster Überblick samt Erklärung.

Amuse-Gueule / Aperitif

Hierbei handelt es sich um den Gruß aus der Küche. In einem Restaurant bedeutet dies, dass der Koch und seine Mannschaft euch hier ein paar kleine Häppchen präsentieren – die ihr nicht explizit bestellt habt –, die euren Appetit anregen sollen.
Allerdings nicht nur das. Sie sollen euch auch einen Vorgeschmack auf das Können der Küche vermitteln. »Du hast xyz bestellt, schau mal was ich aus diesem Blatt Minze, luftiger Schokolade und einer Garnele mache.« (hier der Hinweis, dass ihr hier KEINE Rezepte zum Nachkochen findet!)
Der Aperitif funktioniert ähnlich, ist aber weniger eine Präsentation des Könnens, sondern einfach nur ein Appetitanreger.

Das Amuse-Gueule ist für mich der Prolog eines Buchs.
Im Prolog setzt ihr ein erstes Zeichen für den Leser. Was erwartet ihn hier sprachlich, wie ist das Tempo, wie baut ihr Spannung auf – all diese Dinge werden dem Leser in einem guten Prolog direkt vermittelt. Er will danach mehr, hat »Appetit« auf euren Text und liest weiter.
Ich kann euch schon Rufen hören, dass das doch der Klappentext und das Cover erledigen, die kommen aber noch weiter vorne. Cover und Klappentext sind wie die Speisekarte vor dem Eingang des Restaurants und dessen Fassade. Wenn sie gefallen, betrete ich den Raum – aka öffne das Buch – und bestelle mein Essen.

Vorspeise

Ich dachte früher immer, die Vorspeise wäre der Prolog, aber der ist ja schon der Appetitanreger. Warum eigentlich?
Ein gutes Menü ist von Beginn bis Ende durchgeplant. Der Koch – oder Autor – verfolgt mit seinen Speisen einen Zweck, er hat ein Ziel, dem er euch zuführen möchte. Alle Speisen sind also aufeinander abgestimmt.
Der Gruß aus der Küche sticht aber heraus. Gut, es gibt Restaurants, in denen auch das Amuse-Gueule auf die restlichen Gänge abgestimmt ist, aber es ist kein Bestandteil der klassischen Menüfolge.
Zurück zur Vorspeise. Sie soll euch auf die kommenden Gänge vorbereiten, eure Geschmacksknospen weiter öffnen, aber euch dabei nicht bereits übersättigen. Gemeinhin ist sie als leicht zu bezeichnen.

Im Roman entspricht dies der Einführung eurer Figuren, der Präsentation des Settings, der Welt. Ihr nehmt den Leser an die Hand, führt ihn herum und macht ihn mit den wichtigsten Dingen vertraut, die er wissen muss, um dem Rest des Menüs folgen zu können. Die Geschmacksnerven im Hirn werden auf den Text, euren Stil und alles andere »gestimmt«.

Achtung: Nach einem packenden Prolog entscheidet sich hier, ob der Leser mit eurem Stil und eurer Sprache »warm wird« oder nicht.

Leichter Hauptgang und (schwerer) Hauptgang

Ganz einfach: Die Hauptgerichte sollen euch satt machen.

In den Hauptgängen wird der Plot erzählt. Die Heldenreise, falls ihr sie benutzt. Die Protas stoßen auf den Widersacher/das Problem und geraten in Schwierigkeiten. Rätsel müssen gelöst, Hindernisse überwunden werden.
Das klingt simpel, aber lasst euch nicht täuschen. Im Menü verbringt ihr die meiste Zeit mit dem Verzehr des Hauptgerichts, also muss es auch über »lange Zeit tragen«. Ein Steak sollte gleichmäßig gebraten sein, Nudeln nicht klebrig, Kartoffeln nicht matschig usw.
Im Roman ist es ebenso. Euer Plot muss mehrere Kapitel tragen, der Spannungsbogen darf nicht abreißen, das Tempo muss passen, die Geschichte sollte den Leser dazu verführen, ganz automatisch umzublättern.

Sorbet / Zwischengang

Sorbets dienen häufig als Zwischengang in mehrgängigen Menüs. Sie sollen die Verdauung anregen und das Sättigungsgefühl verringern. Zudem dienen sie der Neutralisation zwischen den Gängen.

Im Roman gibt es immer wieder ruhigere Passagen. Ein Rätsel ist gelöst, dafür präsentiert sich ein neues Problem. Die Helden halten einen Moment inne. Ein Plan ist gescheitert, ein neuer muss gefunden werden. Dies geschieht meist in solchen Zwischenteilen.
Es gibt viele Stellen, in denen ihr im Roman einfach mal wieder das Tempo rausnehmen müsst, dem Leser die Möglichkeit gebt, einen Schritt zurückzutreten, durchzuatmen und sich dann dem nächsten Spannungshügel zu stellen.
Und wie bei einem guten Essen sind auch bei einem guten Text solche Verschnaufpausen wichtig.
Gebt eurem Leser zwischendurch also immer mal wieder einen Zwischengang zur Neutralisation.

Dessert

Ein Menü wird durch sein Dessert unvergesslich. So oder ähnlich tönt es immer wieder. Und denkt einmal genau darüber nach – es ist was dran. Ein gutes Dessert kann viel retten. Ein schlechtes Dessert ruiniert aber ein ansonsten tolles Erlebnis.

Das Dessert eurer Geschichte ist die Auflösung. Die große Endschlacht, das Finale. Nicht der Epilog.
In euren Hauptgängen habt ihr die Spannung aufgebaut, ihr habt Charaktere eingeführt, gekillt, entwickelt. Die Protas haben viel versucht, sind vielleicht auch hin und wieder gescheitert, um jetzt am Ende zu triumphieren.
Dieses Finale ist euer Dessert. In ihm kulminiert eure Geschichte, der Leser sollte danach zufrieden in seinen Stuhl sinken und nur einen Gedanken im Kopf haben: »Das war alles so verdammt gut!«

Häufig gibt es vor dem Dessert noch einen Zwischengang. Manchmal ist das ein Sorbet, es kann aber auch ein Käsegang sein. Wie auch immer, ihr könnt nach dem letzten Hauptgang natürlich noch einen Zwischengang präsentieren, ehe ihr mit dem Dessert auftrumpft.

Digestif

Häufig als Verdauungsschnaps bezeichnet, sollen die in den Getränken enthaltenen Bitterstoffe die Verdauung anregen, euch also helfen, dass das Essen nicht schwer im Magen liegt.

Im Roman fällt dem Epilog diese Aufgabe zu. Hier nehmen wir (wehmütig) Abschied von liebgewonnenen Charakteren, begreifen, dass die Geschichte erzählt ist, dass wir die letzte Seite erreicht haben.
Euer Epilog sollte den Leser sanft aus der Geschichte führen. Nicht zu ausufernd sein, aber auch nicht zu knapp, denn nach dem Höhepunkt gibt es noch so viel zu verarbeiten.
Stellt es euch so vor, als würde man euch in einem Restaurant direkt nach dem Dessert bitten, zu bezahlen und zu gehen. Das wäre unhöflich und ungemütlich. Man möchte doch nach dem Essen noch ein wenig mit den Freunden quatschen und den Abend ausklingen lassen.
Und genau das sollte der Zweck eures Epilogs sein.

Das war ein Schnelldurchlauf durch mein »Schreiben à la carte – System«.
Und jetzt geht los und kocht das beste Essen, das ihr euch vorstellen könnt. »Hummer gefüllt mit Knödeln«
Wer erkennt das Zitat?

Grüße
Stephan
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